Vor all den bunten Webseiten im WWW übersieht man leicht, daß das Internet viel größer ist als das World Wide Web. Wirtschaftlich gesehen, ist Elektropost mindestens so bedeutend wie das WWW - Leute, die beruflich mit dem Netz zu tun haben, verbringen weitaus mehr Zeit mit Email statt beim Websurfen, und auch für private Nutzer steht Mail inzwischen an erster Stelle.
Tatsächlich hat sich auf Basis der guten alten Email sogar eine eigene Kultur im Netz entwickelt: Die Mailinglisten. Technisch sind das einfache Verteiler: Jede Mail geht an alle Teilnehmer der Liste, jeder kann alles lesen und auf alles antworten - zur Not auch privat. Kein Thema ohne Liste: Briefmarken, Brieftauben, Blindenhunde, Blunmenzüchter - alles vertreten. Wieviele solche Listen es gibt, weiß niemand - allein in Deutschland ist es bestimmt eine 6-stellige Zahl.
So einfach die Technik dieser Listen ist, so kompliziert ist oft ihre soziale Struktur. Da gibt es Platzhirsche - die sagen wo's lang geht, und Elche oder Trolle, die liebend gerne Sand ins Getriebe werfen - und dann genüßlich zusehen, wie es knirscht und klemmt. Hinterbänkler gibt es in Massen, man liest nie etwas von ihnen - höchstens anderswo: Dort geben sie dann das in der Liste aufgeschnappte als Eigenes aus. Oder wenn es um Fachlisten geht: Vekaufen es gegen teures Beraterhonorar. Bis sie beim Mogeln ertappt werden.
Auf den ersten Blick geht es da ein bißchen zu wie in einer Schulklasse - nur daß viele Teilnhmer(innen) zwischen 30 und 50 Jahren alt sind. So daß selbst das, was spielerisch aussieht, oft einen nicht nur spielerischen Hintergrund hat. Als kürzlich der Gründer und Administrator ("List-Mom") einer 2000 Mitglieder starken amerikanischen Web-Design-Liste nach fünf einhalb Jahren sein Amt niederlegte, wurde in seinem "Rücktrittsschreiben" und in der Reaktion der Liste darauf eindrucksvoll sichtbar, wieviel Lebensenergie solch ein Engagement verlangt - und welche Wirkung man damit entfalten kann: Die Beachtung der Webstandards, um die sich noch vor drei Jahren kaum ein Mensch kümmerte, sind heute (fast) einse Selbstverständlichkeit - nicht zuletzt dank dieser Liste.
Aber wie gesagt - es muß nicht immer Engagement und Wirkung sein, im Netz der Listen gibt es ungezählte Möglichkeiten. Wer im World Wide Web zuviel bunten Kommerz und zuwenig Kommunikation findet, kann ja mal in einer Suchmaschine sein Interessengebiet und das Stichwort "Mailingliste" eingeben. Damit findet man zwar nicht alles - nicht jede Liste hat eine Homepage im Web - aber allemal mehr als genug.
Während die Medien der USA und des Irak jetzt die Propaganda-Batterien gegeneinander in Stellung bringen, daß der Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur nur noch mit der Lupe zu sehen ist, richten sich Hoffnungen auf unzensierte und unverfälschte Informationen auf das Internet. Sie werden nur zum Teil erfüllt, bis jetzt wenigstens: Der Umgang mit den Nachrichten und Meinungen, Berichten und Gerüchten wird nicht dadurch leichter, daß ihre Zahl enorm ansteigt. Da ist man gut beraten, zumindest zur ersten Orientierung auf die Seiten von größeren Anbietern zurückzugreifen.
Immer lohnend ist derzeit ein Besuch auf den englischsprachigen Seiten von Al Jazeera. Hier erfährt man - sofern man den total überlasteten Server erreicht - wie arabische Journalisten die Dinge sehen, die sich um gleich große Distanz von Diktator Saddam und Präsident Bush bemühen. Geboten werden auch Artikel von teilweise prominenten westlichen Kriegskritikern, die aktuell zumindest in den USA nur wenig Chancen zur Veröffentlichung auf großen Plattformen haben.
Die weniger prominenten Kriegsgegner finden ein Forum auf den Seiten von Indymedia. Dort gibt es in diesen Tagen viele Berichte aus der Friedensbewegung westlicher Länder, aber auch von "menschlichen Schutzschilden" direkt aus dem Irak. Ebenfalls besuchenswert sind alternative Nachrichtendienste wie Yellowtimes und Disinfopedia, die sich seit Jahren und mit viel Sachkenntnis mit dem Mißbrauch der Medien durch Kampagenen von Seiten der Politik oder der Wirtschaft befassen. Yellowtimes wurde übrigens kurz nach Kriegsbeginn auf Anordnung der US-Regierung vom Netz genommen und konnte erst wieder erscheinen, nachdem die Bilder der im Irak gefangenen US-Soldaten gelöscht waren.
Unmittelbar mit Beginn der Invasion ist eine Unzahl von Nachrichten-, Meinungs- und Linkbörsen in Form von Weblogs entstanden, die sich ausschließlich mit dem Irak-Krieg beschäftigen. Darunter sind übrigens auch solche von "Embedded Journalists", eine Liste findet sich bei den Cyberjournalists. Zwei davon verdienen bereits nach wenigen Tagen eine besondere Empfehlung: "Where is Read" liegt zwar auf einem Server in San Francisco, wird aber allem Anschein nach tatsächlich von einem Iraki, der in Bagdad lebt, geführt. Einen ganz anderen Charakter hat das (genau genommen mit allgemeiner Thematik schon länger bestehende) "Ralphs": Dort geht es nicht um persönliche Eindrücke, auch nicht um eine möglichst große Zahl von Links, sondern um eine täglich fortgeschriebene Auswahl besonders informativer Web-Quellen. Ebenfalls zum "Warblog" umgewidmet erscheint der stets hoch informative "Rollberg". Einen enormen Informationsumfang bietet das amerikanische Blog "Ye Old Phart" - man sollte sich von dem flachsigen Namen nicht täuschen lassen.
Wer die über das Internet zugänglich gemachten Informationen nutzt, hat zwar auch nur geringe Chancen, die reine Wahrheit und nicht als die Wahrheit zu erfahren - aber ein bißchen mehr Durchblick durch den Propagandanebel gerwinnt er schon.
Aktuell zusammengestellt:
Netgeschichten zu staatlicher Regulierung und kommerzieller Okkupation des Netzes.
Gefilterte Freiheit - wie das Netz zum "sauberen" Kanal für den Kommerz gemacht werden soll.
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Dr. Michael Charlier