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Gefilterte Freiheit

Wie das Internet zum Kanal für den e-Commerce gemacht werden soll

Nicht nur im notorisch prüden Amerika ist das für Eltern eine Horrorvorstellung: Aus dem global vernetzten Kinderzimmer tönt vergnügtes Gejohle. Doch die lieben Kleinen blättern nicht in den aussenlinkSeiten mit der Maus und amüsieren sich auch nicht auf aussenlinkwww.disney.de mit Goofy und Co. Stattdessen begutachtet der hoffnungsvolle Nachwuchs die enormen Resultate der Silicon-Chirurgie auf Sie-wissen-schon-wo.com und rätselt über den Realitätsgehalt gymnastischer Paar-Präsentationen auf Das-würde-ich-mir-nie-ansehen.se. Dem Vater tritt kalter Schweiß auf die Stirn, doch die frühreifen Surfer, vom TV-Nachmittagsprogramm vor der Zeit abgehärtet, zappen sich schon zur nächsten Attraktion des Netzes. Noch wissen sie nicht, ob sie beim fröhlichen Aliens-Abknallen in einem Online-Spiel landen werden oder bei einem Schiebepuzzle mit ganz tollen Tierbildern. Süüß.

Um diesen Unsicherheiten und Ungewissheiten ein Ende zu bereiten, werden die verschiedensten Filtertechniken angeboten: Sie sollen das Netz "sauber" halten, so dass man es getrost in jedes Kinderzimmer und jeden Schulraum lassen kann. Die Idee kommt ursprünglich aus Amerika, doch auch hierzulande hat sie mächtige Fürsprecher, insbesondere die Bertelsmann-Stiftung in Gütersloh macht seit Jahren mit Kongressen und Veröffentlichung enormen Druck. Seit dem Scheitern des Communications Decency Act 1996 am Einspruch amerikanischer Verfassungsrichter hat sie sogar weltweit die aussenlinkFührung der Kampagne übernommen.

Koordination scheint auch dringend erforderlich. Es gibt auf dem Markt zwar eine ganze Reihe von Produkten, die besorgten Eltern und Lehrern eine Kontrolle des Onlinekonsums ihrer Schutzbefohlenen erlauben sollen. Sie tragen so freundliche Namen wie "NetNanny", "CYBERsitter" oder auch weniger freundliche wie "CyberPatrol", und sie haben alle eines gemeinsam: Sie sind weitgehend unbrauchbar - zumindest für Anwender auf dieser Seite des Atlantik.

Friedemann Schindler und seine Kollegen von aussenlinkwww.jugendschutz.net haben bereits vor mehr als einem Jahr eine ausführliche aussenlinkStudie zum Thema durchgeführt und dabei Anspruch und Leistung der Programme kritisch unter die Lupe genommen. Dabei zeigte sich zum einen, dass sie sehr unzuverlässig sind - deutschsprachige Pornographie wird nur zu einem geringen Anteil erkannt und gesperrt, Nazi- und Hass-Seiten gehen fast ungehindert durch. Andererseits blockieren sie auch jede Menge Seiten, die keinerlei beanstandbaren Inhalte transportieren. Und das schönste: Auch durchschnittlich computer-fitte Kids ohne besondere Internet-Erfahrung haben kaum Mühe, den Filter zu entfernen. Bei einem Internet-Workshop mit Kindern und Jugendlichen im Alter von 12 - 14 konnten die lieben Kleinen ohne erwachsene Hilfe alle Filter austricksen - auch den rabiaten "CyberPatrol", der beim Ansurfen "böser" Seiten schon einmal eine laute Alarmsirene einschaltet oder den Computer so gemein abstürzen lässt, dass eine Neuinstallation des Betriebssystems erforderlich wird.

Die Filter arbeiten hauptsächlich nach zwei Methoden: Sie untersuchen den eingehenden Datenstrom auf "verbotene Wörter" oder sie blockieren den Zugang zu "schlechten Adressen" (Site-Blocking). Ersteres kann nur Leuten einfallen, die nicht wissen, was sie tun - und dann fällt eben auch "Staatsexamen" dem "sex"-Filter zum Opfer, und die Aufklärungsseite von "ProFamilia" sowieso. Das zweite ist - in Grenzen - wirkungsvoller, aber auch gefährlicher. Halbwegs aktuelle Listen von Porno-Servern aufzustellen ist höchst arbeitsintensiv. Die Listen werden deshalb als teure Betriebsgeheimnisse verschlüsselt und sind für die Anwender nicht durchschaubar. Wenn sie aber von aussenlinkHackern gekrackt werden, finden sich darauf durchaus nicht nur Adressen von Schmuddelservern, sondern auch von Servern der Bewegung für freie Rede im Internet oder politischen Gegnern. Auf aussenlinkwww.peacefire.org wird jeden Tag die Adresse eines Non-Porno-Servers veröffentlicht, der von den Zensurlisten blockiert wird. Am 6. Januar war es die aussenlinkNational Organization for Women, die auch für die Rechte von Lesbierinnen eintritt.

All diese Unschärfen und Grauzonen soll PICS vermeiden. Die unter Führung der Bertelsmann-Stiftung in Zusammenarbeit mit AOL, British Telecom, Microsoft, Network solutions, T-Online, UU-Net und anderen Branchengrößen agierende aussenlink"Internet Content Rating Association" hat dieses System entwickelt, das - darauf legen seine Entwickler größten Wert - auf einer "freiwilligen Selbsteinschätzung" der Contentanbieter beruht. Es teilt die Netzwelt in vier Kategorien ein: Gewalt, Sex, Nacktaufnahmen und (ungehörige) Sprache, in jeder Kategorie stehen 5 Stufen zur Verfügung, 0 erlaubt gar nichts und 4 alles. PICS ist bereits heute in die "großen" Browser von Microsoft und Netscape/AOL eingebaut und kann dort jederzeit aktiviert werden.

Der Versuch lohnt sich. Kaum hat man den Filter aktiviert, ist das WorldWideWeb verschwunden, zumindest das deutsche. Logischerweise werden alle Seiten ohne PICS-Rating blockiert, und da bleibt nicht allzuviel übrig. Auf einer ausführlichen Surftour (nicht nur bei Zeitungen) waren gerade einmal drei AnmerkungServer aufzufinden, die eine PICS-Klassifikation aufwiesen: www.spiegel.de (Nacktaufnahmen: Stufe 2, Sex: Stufe 1, Gewalt: Stufe 1 und Sprache ebenfalls Stufe 1 - milde Kraftausdrücke). Außerdem www.fazverlag.de und www.taz.de - beide mit 0 in allen vier Kategorien, was bei mindestens einem von den beiden sicher nicht ganz der Wahrheit entspricht. Auch die Server des aussenlinkBertelsmann-Imperiums von aussenlinkwww.bertelsmannstiftung.de über aussenlinkwww.stern.de und aussenlinkwww.rtl.de bis zu aussenlinkwww.gzsz.de waren ohne Rating - und dabei wäre besonders bei den beiden letzten die Selbsteinschätzung sicher sehr interessant.

AnmerkungNach Abschluss dieses Artikels stellte sich heraus, daß auch Dr. Web am PICS-System teilnimmt. Das ist nach dem Rating "unbedenklich in allen Kategorien" sicher nicht zu beanstanden - umsomehr aber aus den Gründen, die im Artikel am Fall der TAZ ausgeführt sind.

Trotzdem ist es ein Glück, dass kaum jemand das Rating verwendet - damit bleibt PICS reine Theorie. Und dass die TAZ sich mit 0 in allen Vieren durchmogelt, ist eine ausgesprochene Dummheit: Erstens, weil es sowieso unklug ist, sich dem Zensurverlangen auch nur zum Schein zu unterwerfen, und zweitens, weil geschönte Angaben natürlich den Ruf nach amtlicher Prüfung, Überprüfung, Zertifizierung, Unbedenklichkeitsbescheinigung, kurz, nach dem Internet-Wohlverhaltens-TÜV, hervorrufen müssen.

Denn: Ob die Initiatoren von PICS das nun wahrhaben wollen oder nicht, der Gedanke einer "freiwilligen" Selbstklassifizierung ist ein Witz, und das nicht erst, seit das Bundeskriminalamt bei einer aussenlinkVeranstaltungen des Hauses Bertelsmann im letzten September mit einer eigenen Vorschlagsliste von Server-Kennziffern hervorgetreten ist. Wenn PICS oder ähnliche Systeme auch nur die kleinste Chance haben sollen, wird man das Rating a) obligatorisch machen und b) seine Korrektheit überwachen müssen.

Das Internet wäre danach freilich nicht mehr das, was es heute ist. Es gäbe ein "offizielles" Netz, in dem nur noch die Anbieter agieren, die das Geld und den Willen haben, ihre Inhalte einem zweifellos ziemlich teuren Rating zu unterwerfen. Nur noch dieses offizielle Netz wäre mit den handelsüblichen Browsern erreichbar, das dann, wie der Zufall es will, den großen e-Kommerz-Häusern und der Unterhaltungsindustrie einen idealen Kanal für die Ausstrahlung ihrer Angebote bis ins letzte Kinderzimmer bieten würde. Daneben gäbe es dann noch eine Art Untergrund-Web, nur mit speziellen Browsern erreichbar - wenn überhaupt. Schon heute werden von der einschlägigen Industrie aussenlinkServer angeboten, die man so einstellen kann, dass sie nur Inhalte mit Rating-Siegel weitergeben.

Dass solche Befürchtungen einen höchst realen Hintergrund haben, sieht man an den Entwicklungen, die zur Zeit nicht unter dem Etikett des Jugendschutzes, sondern des Schutzes der Urheberrechte vorangetrieben werden. Seit einem Jahr wirbt die deutsche Landesgruppe der International Federation of the Phonographic Industry ( IFPI, unter den prominenten Mitgliedern insgesamt 5 Bertelsmann-Unternehmen) mit enormem Aufwand für die Installation ihres aussenlinkRight-Protection-Systems RPS). Die etwa 70 deutschen Internet-Provider mit Auslandsleitungen, so verlangt es die FPI, sollen dieses System übernehmen - auf freiwilliger Basis, versteht sich. Dann wird bei jedem Aufruf eines Servers im Ausland automatisch überprüft, ob die angeforderte Seite auf der "Schwarzen Liste" der Musikindustrie steht - und falls ja, wird die Verbindung verweigert. Selbstverständlich, so versichert es die IFPI, sollen nur solche Seiten blockiert werden, auf denen "einzelne MP 3-Songs mit unerlaubt angebotenen oder gesetzeswidrigen Inhalten" angeboten werden. Wirkungsvoll kontrollieren kann das niemand. Und wenn das System erst einmal durchgesetzt ist, werden sich die anderen Interessenten an schwarzen Listen schon melden.

Ob diese Filterung technisch wirklich funktionieren kann, ist unsicher - die Bewegung für Freie Information im Internet ist erfinderisch, wo es um die Abwehr von Zensur geht. Aber es ist doch einigermaßen erschütternd, mit welcher Dreistigkeit eine Industrielobby sich ein Recht zur "Grenzbeschlagnahme" (originalton IFPI) im Internet anmaßt - und mit welcher wohlwollenden Gleichgültigkeit die Öffentlichkeit zusieht, wie das Grundrecht des freien Austauschs von Informationen genau in dem Moment demontiert wird, in dem es erstmals von allen genutzt werden könnte. Zum Seitenanfang

Anmerkung

Anmerkung Dieser lange Text ist natürlich keine Netgeschichte. Aber da er zum Thema gehört und ebenfalls in der FR erschienen ist, passt er hier ganz gut hin.